Mittelstand 4.0 - Digitalisierung als Chance nutzen: Teylor im Gespräch mit Digitalisierungs-Berater Thomas Wolter-Roessler
Im Rahmen unserer Interview-Serie “Mittelstand 4.0 - Deutsche KMU im 21ten Jahrhundert” sprach Lukas Hofer von der Teylor AG mit Thomas Wolter-Roessler, Gründer und Geschäftsführer der Mittelstandsberatung twr GmbH.
Als Ingenieur hat Thomas Wolter-Roessler zehn Jahre lang Fabriken geplant und sich anschließend als Organisationsentwickler auf Kultur und Führung in Unternehmen fokussiert. Heute begleitet er KMU als Digitalisierungs-Trainer bei Veränderungsprojekten, insbesondere im Kontext der digitalen Transformation. Diese birgt seiner Meinung nach ungeheure Potentiale, wenn wir sie als das sehen, was sie ist: eine einmalige Chance.
Lukas Hofer und Thomas Wolter-Roessler sprechen über Digitalisierung im Mittelstand, Chancen für KMU und für Deutschland und über den Wirtschaftsraum Stuttgart.
Sie sagen auf Ihrer Linkedin-Seite, Sie seien überzeugt, die Digitalisierung ermögliche eine innovativere, gerechtere, gesündere und Ressourcen-schonendere Gesellschaft. Wo sehen Sie die größten Chancen?
Die Digitalisierung ermöglicht uns eine weitaus granularere Datenaufnahme und -verarbeitung. Das kann uns in den Gesundheits- und Sozialsystemen sowie den öffentlichen Bereichen, z.B. in der Verkehrsplanung, entgegenkommen.
Die Digitalisierung kann auch helfen, ungeheure Effizienzpotentiale zu heben. Ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, die 40 Millionen Erwerbstätigen hierzulande müssten nur 1 Stunde weniger im Jahr mit ihrer Steuererklärung zubringen. Damit werden 40 Mio. Stunden – ein Äquivalent von über 23.000 Vollzeitstellen – frei, die dann für weitaus relevantere Themen, z. B. Ehrenamt, Pflege von Angehörigen, Zeit mit den Kindern etc., zur Verfügung stünden. Und da sind die hohen Kosten unseres aufgeblähten Steuerapparats noch gar nicht berücksichtigt!
Wenn es uns gelingt, die vorhandenen Automatisierungspotentiale als Gesellschaft zu nutzen, werden Modelle wie das bedingungslose Grundeinkommen finanzierbar und wir könnten z. B. den großen Bedarf an Pflegekräften auch mit Teilzeitkräften decken. Das macht diesen wichtigen Beruf attraktiver, ohne dass diejenigen, die ihn ausüben, auf Einkommen verzichten müssten. Gleichzeitig könnten wir durch verstärkte Bildungsmaßnahmen dafür sorgen, dass weniger Menschen in unserer Gesellschaft durch die Digitalisierung abgehängt werden.
Digitalisierungsprojekte brauchen Ressourcen und technisches Know-How. Lohnt es sich für den Mittelstand überhaupt, sich mit Digitalisierungs-Themen zu befassen oder ist das eher ein Thema für Großunternehmen?
Selbstverständlich lohnt sich das! Wie bei allen substanzverändernden Maßnahmen in Unternehmen, und dazu zähle ich die Digitalisierung, ist der Schlüssel zum Erfolg stets die kontinuierliche Veränderung in kleinen Schritten.
Mittelständler können z. B. mit der intensiveren und konsequenteren Nutzung vorhandener IT-Systeme und Daten in die Digitalisierung starten. Ein Beispiel aus unseren Projekten: Ein technischer Händler konnte mit einer Big Data-Analyse seiner gesamten Auftragshistorie und einer anschließenden Optimierung seines Online-Shops ein deutliches zweistelliges Umsatzwachstum erzielen. Analyse und Umsetzung selbst haben nur rund €10.000,- gekostet.
Digitalisierung ist nicht eine zusätzliche Business Unit, die gestaltet, finanziert und ans Unternehmen „angebaut“ wird. Sie zeigt sich im täglichen Handeln und sollte von innen heraus wachsen.
Wo sehen Sie im Bereich der Digitalisierung die größten Potenziale für kleine Mittelständler in der Größe von 10-50 Mitarbeitern?
Das Beispiel mit dem technischen Händler trifft es schon ganz gut. Als besonders eindrucksvoll zeigen sich uns immer wieder gelingende Kooperationen zwischen Mensch und Maschine: Eine Möbelmanufaktur z.B. prüft sämtliche Schäden auf den Lederhäuten mit dem „Fingerspitzengefühl“ hocherfahrener und unersetzlicher Fachkräfte. Durch die digitale Erfassung und die anschließende systemseitige Zuschnittoptimierung konnte das Unternehmen seinen Verschnitt signifikant reduzieren. Wir sollten uns nicht auf den Wettkampf zwischen Mensch und Maschine einlassen. Die besten Lösungen entstehen, wenn sie sich zusammentun.
Für kleine Unternehmen heißt das: Keine Vollautomatisierung der Produktion, sondern sinnvolle Unterstützung durch digitale Assistenten, Analysetools und einfachste KI-Anwendungen, z.B. in der Quaitätssicherung.
Banken verfügen mit Sicherheit über ausreichend Ressourcen, um Digitalisierungs-vorhaben voranzutreiben. Laut einer Umfrage von Star-Finanz wünschen sich deutsche Mittelständler von Banken vor allem digitale Kreditangebote. Warum hinken deutsche Banken trotzdem so stark hinterher und verwenden kaum digitale Prozesse?
Eine hohe Kapitalkraft führt nicht automatisch zu erfolgreichen Projekten! Wir arbeiten viel mit Versicherungsgesellschaften zusammen und erleben dort ein starres System von gewachsenen Strukturen, einer stetig wachsenden Regulatorik und einer starken Kultur der Besitzstandswahrung.
Digitalisierung ist nicht nur ein Technologiethema, sondern insbesondere ein kultureller Wandel. Deswegen scheitern entsprechende Vorhaben oft an eben diesen drei Gegebenheiten. Da ist es für KMU weitaus einfacher, Systeme neu aufzubauen, schnell zu reagieren, auch mal etwas auszuprobieren und aus den Fehlern zu lernen. So kommt es, dass die N26 schon mehr Kunden hat als viele andere deutsche Banken.
Sie sind vor allem im Wirtschaftsraum Stuttgart zuhause. Wie sind Mittelständler im Hinblick auf die Digitalisierung dort aufgestellt? Sehen Sie die Gegend im deutschlandweiten Vergleich als Vorreiter oder gibt es Nachholbedarf?
Der deutsche Mittelstand ist einzigartig in seiner Innovationskraft, seiner Robustheit und seiner Ausgewogenheit. Er ist vermutlich so schwer zu kopieren wie das Silicon Valley. Und in meiner Wahrnehmung haben gerade hier in der Region Stuttgart die allermeisten Unternehmen akzeptiert, dass die Digitalisierung ein Megatrend ist, der nicht zu umgehen ist und der gravierende Veränderungen hervorrufen wird.
Das „ob“ wird kaum mehr diskutiert, vielmehr nun das „wie“.
Kritisch sehe ich hier in der Region die große Abhängigkeit vom bisherigen Geschäftsmodell des Automobils und die fehlenden Alternativen dazu. Die Vielzahl an Unternehmen, die über mehrere Ebenen der Wertschöpfungskette hinweg mit der Automobilindustrie verbunden sind, sind eine zu träge Marktmacht, als dass von ihr wirkliche Veränderungen ausgehen könnten.
Ideen und Initiativen seitens der Politik fehlen völlig – statt sich um wirklich innovative Verkehrskonzepte zu kümmern, beschränkt sich die Landeshauptstadt auf Fahrverbote, das Verdrängen von Parkplätzen und gering ausgelastete Expressbuslinien. Ich habe gegen keine dieser Maßnahmen etwas, aber Innovation ist das keine und Stuttgart könnte ein großartiges Versuchslabor sein.
Sie kritisieren in einem Artikel schwäbische Hidden Champions, die die Digitalisierung ihres eigenen Unternehmens an einen externen Dienstleister vergeben wollen. Warum sehen Sie das kritisch? Sollten solche Vorhaben immer intern umgesetzt werden?
Die Digitalisierung kann wie gesagt kein Add-on zur bestehenden Unternehmensstruktur sein. Ein Unternehmen denkt, entscheidet, handelt, kommuniziert und verhält sich nach der digitalen Transformation anders als vorher. Abteilungsgrenzen verschwimmen, Wissen wird transparent, Entscheidungen fallen nicht mehr nur an einer Stelle, Durchlaufzeiten verringern sich und eine Kultur des permanenten Lernens wird etabliert. Das schaffen Sie nicht durch Palettenmöbel, den berühmten Tischkicker oder externe IT-Services.
Digitalisierung ist eine Entscheidung, die das Unternehmen – allen voran die Unternehmer selbst – trifft. Diese komplexen Veränderungsprozesse extern begleiten zu lassen, ist in der Tat hilfreich; die Tätigkeit als solche auszulagern, können wir nicht empfehlen.
Digitalisierung „geschieht“ im Übrigen auch nicht, sondern sie wird das, was wir daraus machen. Wir empfehlen, sie als großartige Chance zu begreifen und zu nutzen.
Hier können Sie mehr über Thomas Wolter-Roessler und die Arbeit der twr GmbH erfahren.